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Hauptverband - "NEU" - Diktat der Wirtschaft

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Dr. Werner Vogt - Dreiklassenmedizin

aus: "Falter" Nr. 35/05 vom 31.08.2005 Seite 5
In Österreich herrscht längst eine Dreiklassenmedizin. Die
Kranken und Alten werden dem Markt ausgeliefert.

WERNER VOGT

Eine satte Lüge

In Österreich herrscht längst eine Dreiklassenmedizin. Die
Kranken und Alten werden dem Markt ausgeliefert. Wenn
Universitätsprofessoren und Primarärzte ganz plötzlich die Entstehung einer
Zweiklassenmedizin im Lande befürchten, dann haben sie Angst vor sich selbst.
Tagtäglich und seit Jahrzehnten behandeln sie bevorzugt jene Patienten, die
Bargeld auf ihren Ordinationstisch legen oder prächtig zusatzversichert sind.
Wer krank und reich ist, umgeht spielend Eingangsbarrieren und
Warteschlangen. Wer krank und arm ist, wartet Monate und Jahre auf die
Operation der Hüfte oder der Augen. Nutznießer dieser wuchernden
Zweiklassenmedizin sind exakt jene Privatärzte, die jetzt jaulen, und die
Privatversicherungen. Wahr ist: Ob roter Klinikchef oder schwarze
Versicherung, alle reiben sich die Hände, wenn das Geschäft mit den
Krankheiten läuft - und es läuft derzeit prächtig. Wenn die
Verantwortlichen für die Gesundheitspolitik, egal ob im Bund oder in der
Hauptstadt Wien, beteuern, jeder Kranke bekomme exakt das, was er braucht,
dann ist das eine satte Lüge. Dass alle gleich behandelt werden, dass der
Schwerkranke Vorrang hat - diese Ideen sind längst mausetot. Das war kein
plötzlicher, unerwarteter Tod, sondern ein geplanter, beabsichtigter
Dolchstoß. Die Beerdigung des Sozialstaates und die Auslieferung der
Kranken und Verletzten, der Behinderten und Geisteskranken, der
hilfsbedürftigen Alten an den freien Markt ist erklärte Regierungspolitik.
Wer zahnlos ist, wer schlecht sieht, wer gehörlos oder gelenkskrank ist, der
Zuckerkranke mit dem Beingeschwür, mit der Amputation - ihnen allen werden
Selbstbehalte in einer Höhe zugemutet, die für eine Mehrheit der Patienten
untragbar ist. Wer die willkürlich, aber gesetzlich herbeigeführte
Umwandlung eines Patienten zum Pflegepatienten erdulden muss, marschiert sehr
oft in die dritte Klasse der Medizin herab: ein Bad für siebzig Patienten,
rationierte Inkontinenzeinlagen (Windelhosen), dürftige - weil personell
unterbesetzte - Pflege, keine Betreuung. Erst der soziale Tod, dann
physischer Tod. Dreiklassenmedizin mit politischem Mehrheitsbeschluss. Die
Aushungerung der Krankenkassen, die Aufhebung der Selbstverwaltung in den
solidarischen Versicherungen und die Einschleusung von willfährigen
Regierungskommissaren in alle Entscheidungsgremien des Sozialstaates, die
Ausbeutung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, die keine Defizite
ausweist, die Zuweisung dieser Gelder aus einer Sozialstaatseinrichtung an
diverse Privatkrankenhäuser - das alles ist sozialstaatsverwüstend, das alles
ist Regierungspolitik. Die Krankenkassen werden absichtlich nicht
saniert. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt wird wild entschlossen
ruiniert. Schon jetzt und immer wieder kündigt ÖVP-Gesundheitsministerin
Maria Rauch-Kallat den Verkauf von Unfallkrankenhäusern an private Ausbeuter
an. Darunter befinden sich rote und schwarze Anbieter. "Humanocash" ist
parteilos und gewissenlos. Das professorale Gejammer, dass
Krebspatienten, Herz-Kreislauf-Patienten, dass chronisch Kranke wie
Diabetiker und Rheumatiker nicht auf der Höhe der Zeit der medikamentösen
Möglichkeiten behandelt werden können, ist widerlich. Die Kläger beklagen
nicht Patientenschicksale, sondern mangelhafte Geldflüsse des Staates an die
Pharmaindustrie. Die medizinischen Großgrundbesitzer an den Kliniken bangen
um ihre an die Pharmaindustrie gekoppelten Forschungsprojekte. Sie sind
"Mit-Player" in jenem Teil der Medizin, der Fortschritt ausschließlich im Tun
und Treiben der Pharmaindustrie sieht. Medizin ist: Medikament oder
Operation. Dass es sinnvoll wäre, Primärprävention zu betreiben, gegebene
gesellschaftliche Krankheitsursachen aufzuspüren, dass es besser wäre, Krebs
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verhindern, als ihrem Anstieg zuzusehen
und dann die Pharmaindustrie um teure Präparate zu bitten, sehen die
"Kassandra-Rufer" nicht ein. Sie haben sich alle an ein falsches
medizinisches Denken gewöhnt und sind in der Dreiklassenmedizin aufgewachsen.
Die Anpassung hat sich für sie sehr gelohnt. Primärprävention, etwa die
Verhinderung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, wurde und wird in
Österreich nur von einem Institut hervorragend und mit weltweit anerkanntem
Erfolg betrieben: von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt. Sie hat die
Zahl der Arbeitsunfälle so gesenkt, dass Behandlungskosten und
Rentenzahlungen ausblieben, dass Defizite zu Überschüssen mutierten. Würde
das Wissen und Können der Präventivabteilung der Allgemeinen
Unfallversicherungsanstalt für den Freizeit- und Verkehrsunfallsektor
genutzt, könnten Tausende Verletzungen und daraus folgende Invalidisierungen
verhindert, die übergroße Zahl der jährlichen Verkehrstoten drastisch gesenkt
werden. Das verhindert die Ministerin Rauch-Kallat. Sie will das Wissen
und Können der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt volkswirtschaftlich
nicht nutzen. Sie will die Institution durch finanzielle Ausbeutung und durch
Abverkauf liquidieren. Hier schreit kein Professor. Im Standard schrieb
Conrad Seidl, unser Gesundheitssystem werde dem von Feldlazaretten
angeglichen. Dort herrscht Triagesystem. Da im Feld - der Lehrmeister der
Chirurgie ist die Kriegschirurgie - nicht alle Verletzten gerettet werden
können, werden die schweren Fälle bis zum letzten Atemzug getröstet und die
leichten Fälle ordentlich behandelt. Das ist nicht gerecht, aber listig und
billig. Es fördert die Feldtauglichkeit, nicht die Gesundheit. Der
Sozialstaat ist kein Feldlazarett. Jeder gegen jeden, der freie Markt
gegen alle. Das ist österreichische Gesundheitspolitik. Das ist Triage. Der
Reiche und Gebildete überlebt lange, der Arme und Arbeitslose büßt Leben ein.
Auch dies ist Absicht und kein Zufall. Es gibt keinen Gesundheits- und
Sozialpolitiker, der nicht das Ergebnis unserer vorangegangenen
Sozialstaatspolitik betrauert und beklagt: Zu viele unrentable Alte, die
nichts bringen und nicht rechtzeitig, eben kostengünstig, ihr Leben
beenden.
Der Unfallchirurg Werner Vogt ist Pflegeombudsmann der Stadt Wien.

(Quelle: Vogt/Falter; "Falter" Nr. 35/05 vom 31.08.2005 Seite 5)



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